Mittwoch, 14. Dezember 2005

Traditionen und deren Pflege

Den nachfolgenden Text habe ich auf www.borsig.at gefunden. Hier hat der Lehrer J. Borsig sich über Traditionen ausgelassen. Der Text spiegelt im Großen und Ganzen auch meine Haltung diesbezüglich wieder.

Vielleicht die einzige Zeit im Jahr, wo für fast alle Menschen alte Traditionen wieder lebendig werden, ist Weihnachten. Das Weihnachtsfest läuft meist nach festen Regeln ab, die selten gebrochen werden. Es werden zu einer ganz bestimmten Zeit Weihnachtskekse gebacken, in der Adventzeit gibt es "Birazelten" und am Heiligabend die traditionelle Würstelsuppe. Selbst ausgesprochene Kirchenmuffel besuchen die Christmesse und an den Feiertagen werden die Verwandten besucht, in einem genau festgelegten Rhythmus, versteht sich.
Und wehe, wenn ein Nikolausumzug mit einem Discozelt "verschandelt" wird oder gar sich ein türkischer Lokalbesitzer erdreistet, am Weihnachtsmarkt Döner Kebap anzubieten. Man muss sogar selbst aufpassen, hier nicht ins gleiche Horn zu stoßen, so tief verwurzelt sind Ansichten wie diese. Doch welchen Wert haben solche Traditionen noch? Oder besser gesagt: Wie ehrlich sind die überlieferten Rituale?

Der Mensch neigt dazu, ständig wiederkehrende Abläufe zu automatisieren, weil es für ihn einfacher ist, als immer neu darüber nachdenken zu müssen. Das fängt schon beim morgendlichen Zähneputzen an, das bei den
meisten unbewusst immer nach dem gleichen Schema abläuft, und lässt sich beliebig fortsetzen: Man steigt immer mit dem gleichen Fuß zuerst in die Hose, man kocht immer zuerst den Kaffee und deckt dann den Tisch oder wie auch immer. All das sind Handlungsmuster, die auf positiven Erfahrungen beruhen und die dazu dienen, uns das Leben zu erleichtern. So hat der Vater dem Sohn früher erklärt, mit welcher Fruchtfolge er das Feld zu bestellen hat, damit es besonders gut gedeiht, oder wie man aus rohen Brettern einen Stadel zusammenbaut. Wenn der Sohn dieses Wissen an seine Kinder weitergegeben hatte und diese wiederum an ihre Kinder, dann war das immer noch richtig. So ist aufgrund einer positiven Erfahrung eine Tradition entstanden, die über Jahrhunderte ihre Berechtigung hatte. - In unserer heutigen schnelllebigen Zeit verliert das überlieferte Wissen jedoch sehr rasch seine Gültigkeit. Welcher Großvater könnte seinem Enkel heute schon Windows XP erklären? Selbst die Schulen können mit den sich ständig wandelnden Anforderungen kaum Schritt halten (siehe Pisa-Studie!).

Doch nicht nur praktische Dinge wurden so tradiert, auch religiöse Bräuche und Rituale gehen auf ebendiese Automatisierung von Handlungsmustern zurück. Unsere Vorfahren haben nicht zwischen Alltag und Religion
differenziert. Für sie war Religion Alltag und Alltag Religion. Daher hatten auch ihre religiösen Bräuche einen praktischen Nutzen (der Segen für eine gute Ernte, das Austreiben der Dämonen usw.). Gebildete Menschen haben dies zu allen Zeiten gewusst. Daher wurden im Zuge der Christianisierung Mitteleuropas alte "heidnische" Bräuche übernommen und mit christlichen Inhalten besetzt. Ein Beispiel dafür ist "Halloween". Ursprünglich war dies das keltische "Samhain", ein Fest, mit dem die Kelten auch bei uns den Sonnengott verabschiedeten, der sie durch die fruchtbare Jahreszeit begleitet hatte. Das alte Jahr starb, das neue wurde geboren. Von jetzt an hielt der Totenfürst, der Herrscher des Schattenreichs, das Zepter in der Hand. Papst Gregor III. machte im 9. Jahrhundert daraus das christliche "Allerheiligen"-Fest. Viele Menschen regen sich auf, weil "Samhain" auf dem Weg über die britischen Inseln und Amerika nun als "Halloween" in seine alte Heimat zurückkehrt. Hier wird Traditionspflege unehrlich, denn Halloween ist älter und auch europäischer als jeglicher christliche Brauch!

Als Agnostiker stehe ich religiösen Ritualen neutral gegenüber. Wer glaubt, dass das alleinige Befolgen bestimmter Riten zur Glückseligkeit führt, der soll dies - in Gottes oder wessen Namen auch immer - tun. Er soll aber bitte auch alle anderen tun lassen, was diese zu ihrer Glückseligkeit glauben tun zu müssen. Und wenn jemand einfach nur feiern will und es lustig haben will, dann soll ihm auch dies gestattet sein. Gefährlich werden Traditionen allerdings, wenn diese Toleranz nicht mehr gegeben ist. Denn Traditionen haben noch eine ausgeprägte Eigenschaft: Sie grenzen aus. Sie grenzen alle aus, die diese Tradition nicht pflegen, weil sie vielleicht einer anderen Religion oder Kultur angehören. Da reicht es in Tirol schon, aus der katholischen Kirche auszutreten. Eltern mit Kindern kann man nur davon abraten, wenn sie ihre Kinder nicht ausgrenzen wollen, weil sie dann z.B. nicht zur Erstkommunion gehen dürfen. Selbst Lehrern (vor allem in der Volksschule) ist angesichts der vielfältigen Beschäftigung mit kirchlichen Themen davon abzuraten, und das in einem Land, das offiziell keine Staatskirche hat.

Daher bin ich froh, wenn auf Nikolausmärkten zur Disco-Musik getanzt wird und wenn ich zum Glühwein ein Döner genießen kann. Dies zeugt von gelebter Toleranz und bereichert unser gesellschaftliches Leben. Denn etwas Positives haben sie doch, die Traditionen: Zumindest auf dem tristen Lande sind sie eine willkommene
Abwechslung. So wie zum Faschingsumzug oder zum alljährlichen Marktfest trifft man sich eben auch am Nikolausmarkt. Gäbe es die Traditionen nicht, wäre das kulturelle Leben langweiliger und farbloser. Allerdings muss man sich immer bewusst machen, was Traditionen eigentlich sind: uralte Verhaltensmuster, die heute überwiegend ihre Gültigkeit eingebüßt haben. Oder, wie ein englisches Sprichwort sagt: "Traditionen sind wie Laternenpfähle. Sie beleuchten den Weg, aber nur Betrunkene halten sich daran fest."

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